So, dann wage ich hier mal meinen kleinen, bescheidenen Einstand ins Reviewer-Gefilde mit:
Entwickler: Creative Reality Publisher: Empire Genre: Adventure
--- Eine essayistische Rezension ---
(PC CD-ROM; ENG, White Label)
Moderne ZeitenDie Jahre 1994 bis 1996 gelten in der Geschichte der Videospiele als sehr fruchtbare Jahre: Die CD-ROM eroberte die heimischen Computer und eröffnete Spieleentwicklern in aller Welt ungeahnte Möglichkeiten, ihre kreativen Visionen umzusetzen. Publisher waren bereit, neue Märkte zu erkunden und Experimente zu wagen, die zuvor als zu riskant oder unprofitabel galten. In der Folge entstanden zu jener Zeit zahlreiche Titel, die sich vornehmlich an einen erwachsenen Kundenkreis richteten. Neben dem heutzutage eher belächelten Phänomen der "Interactive Movies" brachte das bis dahin eher humoristisch getönte Genre des Adventures einige Titel hervor, die die erheblichen narrativen Möglichkeiten dieses Genres auf andere Art als die etablierten Hersteller ausreizten. Titel die
"Death Gate" und
"Under a Killing Moon" erschienen und erfreuen sich auch heute noch hoher Beliebheit; Aber auch exotische Titel wie
"Bad Mojo" oder
"I have no Mouth and I must Scream" erblickten das Licht der Welt, erwiesen sich jedoch als zu sperrig für den Massengeschmack und kursieren heute nur unter kleinen Fankreisen. Irgendwo zwischen diesen Sphären siedelt sich das dystopische, Ende 1994 erschienene Adventure
"DreamWeb" der englischen Entwicklerfirma Creative Reality an; Ein Spiel, das vor allem ob seiner psychologischen Tiefe besondere Betrachtung verdient.
BetonwüsteEine namenlose Stadt in einer nicht näher bestimmten Zukunft: Regennässe, Schmutz und Kälte herrschen vor, allerorten hat das Neonlicht die Sonne verdrängt. Das Nachrichtennetzwerk berichtet praktisch nur noch von Gewalt, wirtschaftlichem Abschwung und schlechtem Wetter, ruft mitunter manchmal selbst dazu auf, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Inmitten dieser Tristesse aus Stahl, Beton und Wolkenkratzern fristet die Hauptfigur Ryan ein trostloses Dasein: Einst ein hoffnungsvoller Student, verfiel er irgendwann dem Alkohol und muss sich nun mit einem ungeliebten Job als Barkeeper in einer heruntergekommenen Spelunke herumschlagen. Ryan ist hoch verschuldet, sein Lebensstandard niedrig, eine Perspektive nicht vorhanden; Nicht einmal seine Freundin Eden findet mehr Zugang zu ihm. Seit geraumer Zeit schütteln ihn Albträume und Zukunftsängste: Das "DreamWeb" - ein uraltes, mystisches Gebilde, das die Träume der Menschen kontrollieren kann - wird von bösen Mächten bedroht, die der lokalen Prominenz angehören. Die Träume werden zusehends intensiver, bis Ryan sich als Auserwählter im Kampf gegen die feindlichen Mächte sieht und sich als "Deliverer" in den bewaffneten Kampf begibt.
Was schon bei der ersten Sichtung von "DreamWeb" auffällt, ist die Verwendung der Vogelperspektive - eine für Adventures sehr ungewöhnliche Wahl, die hier ein seltsames Gefühl von Distanziertheit erzeugt: Das Geschehen scheint entrückt, die Gesichter der Figuren werden nur angedeutet - mit Ausnahme der Hauptfigur, die stets in einem Seitenporträt neben dem Spielfenster eingeblendet wird. Das Geschehen wird mit der Maus gesteuert, wobei die Figur sich jedoch stets in vorgegebenen Bahnen bewegen muss. Eine zuschaltbare Lupe am linken unteren Bildrand greift dem Spieler dabei beim "Pixel-Hunting" unter die Arme. Untermalt wird das Geschehen von einer deutlich an Vangelis und Tangerine Dream angelehnten Synthie-Klangkulisse, die das düstere Treiben mit monotonen Klängen passend unterstreicht. Die Farbpalette der Grafidarstellung greift dabei in erster Linie auf Grau- und Brauntöne zurück, die nur selten von poppigen Farben (z.B. bei Leuchtreklamen) gebrochen werden. Die Berührpunkte mit der Cyberpunk-Koryphäe "Blade Runner" drängen sich in fast jedem Bild auf: Die Stimmung, die sich durch das Spiel zieht, ist durch und durch düster.
Auch ist die Linearität des Spielprinzips ein prägendes Motiv von "DreamWeb": Schauplätze werden zumeist nur einmal besucht, Dialoge laufen automatisch ab. Demgegenüber steht eine enorme Fülle an untersuchbaren Objekten, die meist keine direkte Spielrelevanz haben, jedoch ein sehr klares, intensives Szenenporträt erzeugen (So entlockt die Betrachtung eines Fensters beispielsweise die ernüchternde Meldung
"You see nothing but darkness."). Tatsächlich kann man sich stundenlang mit der Betrachtung und Benutzung von Objekten beschäftigen, ohne eine für das Spiel relevante Aktion auszuführen. Würde man diese Aktion zusammenfassen, bliebe ein sehr kurzes Spiel übrig, das in Sachen Puzzledichte wenig zu bieten hätte. Wollte man
"DreamWeb" mit der herkömmlichen Adventure-Wertungsschablone bewerten, bliebe demnach ein durchschnittliches Spiel übrig. Damit täte man jedoch diesem herausragenden Titel unrecht, denn die wahren Stärken verbergen sich unter der Oberfläche.
Psychogramm eines AmokläufersDreamWeb lag beim Erscheinen das von Stephen Marley verfasste
"Diary of a (mad)man" bei, dessen Lektüre vor dem Spielen dringend anzuraten ist; Dieses Heft setzt die Spielhandlung erst in den richtigen Kontext, der ohne dieses Hintergrundwissen eher nebulös bleibt: Es liefert Aufschluss über die vielen Geheimnisse und Fantasien, die sich in Ryans Kopf verbergen und letztlich zur Triebfeder für die Handlungen werden, die dann der Spieler auszuführen hat. Ryan wird als ein tief gefallener und introvertierter Antiheld charakterisiert, für den die Welt alles Lebenswerte verloren hat. Selbst gegenüber seiner Freundin empfindet er nur starke Minderwertigkeitskomplexe: Sie erklimmt steil die Karriereleiter bei einer örtlichen Elektrofirma während er in der Lohnsklaverei festsitzt. Sie hat eine eigene Loftwohnung bezogen, er hingegen haust in einer kleinen Trümmerklitsche. Sie ist imstande, ihr eigenes Auto zu reparieren, er besitzt nicht einmal ein eigenes. Seine Komplexe und Laster schlagen sich in Albträumen nieder und vermengen sich mit Fantasien über das
"DreamWeb" - bis er sich auf einer Messias-Mission glaubt und sich auf einen verhängnisvollen Weg begibt. Der Monitor wird so zum Schaukasten einer menschlichen Tragödie, die der Spieler nicht abwenden, sondern nur durch Mausklicks vorantreiben kann.
Das Spielgeschehen selbst zeichnet folglich das Gemisch aus Fantasie und Realität, in dem Ryan sich Schritt für Schritt verliert: Traumszenen aus dem DreamWeb - die im Tagebuch noch als "Blackouts" beschrieben werden - wechseln sich ab mit diversen Stationen, die durch Ryans Alltag führen. Die Spielfigur erlebt dabei Stress im Job, materielle Armut, gesellschaftlichen Werteverfall, menschliche Verelendung und innere Entleerung - externe Faktoren, die als Katalysator für seine Wahnvorstellungen fungieren. Auch wenn dieses Spiel keine Doktorarbeit oder ein psychologisches Dossier ersetzen kann, so ist den Machern doch der Versuch zuzubilligen, die moralisch verwerflichen Ziele der Hauptfigur zu motivieren und zu Teilen nachvollziehbar zu machen. Das Programm fordert unmoralische Handlungen vom Spieler, hinterfragt diese jedoch durch deren zunehmende Brutalität und subtile Andeutungen auf Ryans Situation, die in den Spieltexten zutage treten, wie beispielsweise in der bedeutungsschwangeren Zeile
"You sit on the chair, but a train is never going to arrive for you.".
Unterm StrichWelcher Güte ist DreamWeb nun also zuzurechnen? Die Antwort ist in diesem Fall mehr als üblich vom persönlichen Standpunkt abhängig. Die technisch solide - in Bezug auf die Musik sogar eindrucksvolle - Realisierung steht einer eher geringen Komplexität und etwas umständlicher Benutzerführung gegenüber. Dies wiederum wird kaschiert von einer immens starken Athmosphäre und einer äußerst intensiven Figurenpsychologie, die DreamWeb weniger zum Adventure im traditionellen Sinne sondern vielmehr zu einer Tour-de-force durch die dunklen Winkel der menschlichen Psyche macht. Wer bereit ist, diesen Faktoren eine Weile den Vorzug zu geben und statt beinhartem Rätselknacken lieber ins Setting eintauchen will, wird mit einem Adventure belohnt, das einem teils beängstigende Parallelen zu Geschehnissen in der Wirklichkeit aufzeigt und mit einer sehr unkonventionellen Figurenpsychologie aufwartet. DreamWeb ist durch und durch ein "Erwachsenen-Adventure", das allerdings weit über seiner Reputation rund um Sex & Violence steht. Die vorherige Lektüre des Diary of a madman sollte jedoch aufgrund der engen Verzahnung mit der Spielhandlung als Pflicht angesehen werden. Sehr bedauerlich, dass dieses bei späteren Auflagen oft weggelassen wurde.
(9/10 Punkte)