Ein Bekannter von mir schreibt regelmässig Kinofilm- und Fernsehkritiken für eine große Tageszeitung im Südwestdeutschen Raum, die ich stets per E-Mail zugeschickt bekomme.
Da der Inhalt der letzten Mail gerade zum Thema passte, wollte ich ihn Euch nicht vorenthalten:
Anke Late Night
Der neue Bundespräsident wird erst am kommenden Sonntag bestimmt, die wirklich wichtige Amtsnachfolge in Deutschland wurde aber bereits am Montagabend geregelt: Anke Engelkes Inthronisierung als selbsternannte: „Queen of Late Night“. Den Eindruck konnte zumindest gewinnen, wer die umfangreiche Vorberichterstattung ebenso verfolgte wie die direkt nach Sendeende hereinpurzelnden dpa-Meldungen sowie umgehende Leserumfragen und Analysen in den Online-Medien: „Eine ausführliche Renzension folgt um 12 Uhr“. Viel Wirbel um einen Einstand, der somit eigentlich nur enttäuschen konnte - und das über weite Strecken auch tat.
Man hatte ihn vermisst, gleich zu Beginn des Jahres, als das Dschungelcamp auf Sendung ging. Auch das Geschacher um die Bundespräsidentenkandidatur, die Welteke-Abzocke, das Scheitern Bayern Münchens – zu allem hätte man gerne von Harald Schmidt eine spätabendliche Einordnung gewünscht. Die holprige Anfangszeit inklusive ärgerlicher Polenwitze, selbst so mancher Leerlauf im hochgepriesenen Spätwerk war da schon längst vergessen oder verklärt. Schließlich war Schmidt ja nicht gescheitert, sondern im vornehm verhüllten Zorn aus dem Sat 1-Programm geschieden. Damit erklärt sich auch Engelkes Dilemma: Wäre Schmidt noch auf Sendung, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, ihr eine Late Night Show anzutragen – am wenigsten sie selbst. Insofern gilt die 38jährige eben doch als Nachfolgerin und beging beim Debüt vor 2,46 Millionen Zuschauern (22,5 Prozent Marktanteil) auch noch den Fehler, sich allzu sklavisch am Konzept der Schmidt-Show zu bedienen. Derselbe Biersponsor als Präsentator, ähnliche Studiokulisse, Auftritt Band, schwache abgelesene Gags zum Auftakt – da fragt man sich schon, wofür die fünf Monate Vorbereitungszeit eigentlich genutzt wurden. Vielmehr hatte man den Eindruck, eine reichlich aufgeregte Urlaubsvertretung im Einsatz zu erleben. Tatsächlich war die sonst so souveräne Komödiantin sichtlich nervös, kramte immer wieder hinter ihrem Schreibtisch und litt deutlich unter der mangelnden Heiterkeit ihres an sich wohlwollenden Studiopublikums. Alles sehr menschlich und auch nicht unsympathisch, die im Vorfeld gestellten Prognosen erfüllten sich aber fast gänzlich. Vor allem diese: Engelke kann mit politischen Themen wenig anfangen, sodass ihre Meinung dazu auch nicht wirklich interessiert. Das Talent der preisgekrönten Verwandlungskünstlerin liegt mehr im schauspielerischen, wie die zahlreichen Einspieler belegten. Und auch beim Umgang mit den Gästen besteht durchaus Hoffnung: Zwar riss Bastian Patewka die Show fast komplett an sich (und wird vielleicht eines Tages ihr rettender Manuel Andrack), zwar hätte Popstar Sting ebenso mehr Zeit verdient wie die Istanbul-Rückkehrer Max und Stefan Raab. Aber mit ihrer frechen Art könnten Anke durchaus interessantere Interviews gelingen als ihrem Vorgänger. Da aber die Schmidt-Fans selbst dessen freundliches Desinteresse zur Kunstform erklärt haben, muss sich Engelke noch auf einige harte Wochen einstellen: Die 100-Tage-Schonzeit des Bundespräsidenten gilt im Showgewerbe nicht.
S. R.