Ich bin jetzt 40 Jahre alt. Das ist ja noch nicht sooo alt. Gestern abend habe ich einer alten Leidenschaft gefrönt und habe mir Wrestlemania 33 angesehen. Seit ich vor vielen Jahren - Anfang der Neunziger dürfte das gewesen sein, vielleicht sogar Ende der 80er - mal auf Sky im Kabelnetz Wrestlingmatches gesehen habe, war mein Interesse geweckt. Ich kannte die Rocky-Filme, und da ich ein Kind des Kalten Krieges bin, war mir insbesondere Rocky IV, also der mit Ivan Drago in Erinnerung geblieben. Da ich den Film erstmalig 1988 gesehen habe, damals noch in der ARD, wird sich die Faszination für das Wrestling danach eingestellt haben.
Dem Boxen an sich konnte ich nie viel abgewinnen, auch heute nicht. Aber meine Faszination für Superheldencomics, gemischt mit dem farbenfrohen Auftreten der Wrestler und dem übernatürlich anmutendem "Uphulken", dazu ein paar fantastische Moves, Sprünge vom obersten Ringseil (Macho Maaaaaan!), Stuhlschläge und klar verteilte Sympathien - das war für mich die Mischung, die mich faszinierte.
Die Wrestlingshow lief am Wochenende, doch irgendwann wurde der Sendeplan geändert, und so verlor ich es ein wenig aus den Augen. Aber eine kleine Zeitschrift namens Limit, eine Micky Maus für Größere, die erneuerte die Faszination, weil sie die aktuellen Superstars der WWF (heute: WWE) vorstellte und deren Gimmicks (so die Ringnamen und deren fiktiver Hintergrund, denn wie ihr alle wisst, ist Wrestling ja ein "Sport", in welchem die Ergebnisse vorher abgesprochen werden). So liefen dann Indianer (Tatanka), pink gekleidete Sportler (Bret Hart) oder Sumo-Ringer (Yokozuna) auf, um sich gegenseitig den Championship Belt abzunehmen. Wann die Kämpfe liefen, wusste ich immer noch nicht so genau, ich war auch zu faul danach zu suchen. Manchmal bin ich auch bei RTL über Wrestlingkämpfe (CatchUp hieß das glaube ich) gestolpert, aber dann eher beim Zappen (Meine Eltern hatten damals schon Kabelfernsehen ^^) .
Aber irgendwann dann wurde Anfang 1993 im deutschen Fernsehen Wrestlemania IX übertragen, das Main Event der gesamten Liga - quasi das Champions League-Finale, nur mit mehreren Kämpfen, mit deutschem Kommentar auf RTL2 (ja, die hatten auch mal Qualitätsfernsehen!). In der Zwischenzeit hatte ich von einem Wrestler vernommen, der sich The Undertaker nannte: Ein mysteriöser Kerl, der wie ein Leichenbestatter aussah und seine Kraft aus einer Urne bezog. Ja, ich weiß, eine hanebüchene Geschichte, und heutiges Wrestling funktioniert so auch nicht mehr, aber als superheldenverliebter Teenager war das genau mein Lockmittel. Dazu kamen seine Bewegungen - er setzte sich nach einem Schlag immer wie ein Zombie auf und verunsicherte seine Gegner dadurch. Er war fantastisch. Auch das Publikum hatte das schnell raus und es dauerte nicht lange, bis er ein Publikumsliebling war. Er wurde zum Idol, zur Ikone: Schwarz gekleidet, 2,06m groß und fast immer stumm. Dazu hatte er einen Einzug, dessen Intensität noch heute für Gänsehaut sorgt: Die Halle wurde dunkel, und ein Gong ertönte - jeder wusste sofort, wer da kam und was man erwarten konnte. Auf jeden Fall war Wrestlemania IX ein gigantisches Ereignis amerikanischen Ausmaßes, ein pathetisches Brimborium, welches mich in den Bann schlug, auch wenn ich manches nur kopfschüttelnd hinnahm.
Besonders gut erinnere ich mich in der Folge an den Royal Rumble 1994, der mit "des Undertakers Himmelfahrt" endete, eine Zeit, in der man solche mystischen Geschichten noch verkaufen konnte (heutzutage weiß man quasi schon vorher, dass der Wrestler eine Verletzungspause einlegen muss). Über die Storyqualität der Fehde sollte man allerdings das Tuch des Schweigens legen.
In den nächsten paar Jahren verfolgte ich Wrestling intensiver, bekam neue Favoriten (Razor Ramon, noch immer mein Lieblingswrestler), aber durch meinen Ausbildungsbeginn und einigen Problemen mit meinen Eltern, die mich zuhause ausziehen ließen, war ich für einige Jahre quasi "fernsehlos" was das Spätprogamm anging. Ich habe damals bei den Eltern meiner Frau gewohnt, und wir waren viel tanzen oder einfach unterwegs, so dass ich viele Fernsehphänomene der späten Neunziger komplett ignoriert habe. Die WWF/WWE und die "Monday Night Wars" mit der konkurrierrenden Liga WCW gehört dazu.
Erst viel später, irgendwann 2006 oder so, ergab sich die Gelegenheit, mal wieder Wrestling zu schauen, ich kann gar nicht sagen, was das war. Aber man schaute mal rein, fand im Internet Quellen mit Showberichten (
www.genickbruch,com), fand heraus, dass bestimmte Wrestler inzwischen gar verstorben waren, deren Auftritte man noch gut in Erinnerung hatte (RIP Owen Hart) und das ein paar Ikonen immer noch aktiv waren, darunter: Der Undertaker. Dazu findet man die regelmäßigen Sendungen auch immer wieder mal im Free-TV, die Großereignisse gibt es auf Blu-Ray und YouTube ist voll mit den besten Kämpfen der letzten 40 Jahre. Der Undertaker hatte bei Wrestlemania seine Auftritte und gewann die dortigen Kämpfe mit schöner Regelmäßigkeit. Jeder, insbesondere seine späteren Kämpfe, waren epische Matches, die zum Teil auf das Karriereende des gegnerischen Wrestler ausgelegt waren. Ohne jetzt auf die legendäre "Streak" einzugehen, gab es eine 23:1 Siegesserie bei seinen Wrestlemania-Kämpfen bis zu diesem Jahr. Der Undertaker war immer da, auch wenn er in den letzten Jahren merklich an körperlicher Verfassung verloren hatte. Immer, wenn man in den letzten Jahren dachte, das sollte jetzt sein letztes Match gewesen sein, tauchte er doch wieder aus der Versenkung auf, um Herausforderungen anzunehmen. Seine Niederlage gegen Brock Lesnar (die "1" in der Serie) war für viele der Punkt, an dem der Undertaker hätte seinen Hut nehmen können - evtl. sollen, doch der Undertaker ist einfach unkaputtbar gewesen. Und jeder, einfach jeder, der seinen Entrance in voller Breite erlebt hat, wird diesen nie wieder vergessen. Dazu dieses Unnahbare, Unbesiegbare. Donnnggggg! Wahnsinn.
Und auch in diesem Jahr stand nun das obligatorische Undertaker-Match bei Wrestlemania an. Die Fehde dazu, nun, sie kam aus dem Nichts. Der Gegner, Roman Reigns, seins Zeichen das neue Aushängeschild der WWE, beanspruchte die Liga als "sein Yard", der Undertaker hielt dagegen, hinzu kam, dass Reigns beim Royal Rumble 2017 den Undertaker eliminierte - klassischer Aufbau soweit, entsprechend unspektakulär. Aber was solls! Der Undertaker steigt in den Ring! Yaaay!
Und so freute ich mich wie Bolle auf den Main Event der diesjährigen Wrestlemania. Die Wrestler marschierten ein, der Undertaker wie immer in epischer Breite und Gänsehautatmosphäre. Toll. Das Match war zwar langsam, aber das ist bei einem 52jährigen 2m-Koloß auch nicht anders zu erwarten gewesen. Seine Top-Rope-Walks sind schon lange nicht mehr zu sehen gewesen, aber der Tombstone Piledriver sitzt immer noch. Doch es kommt, wie es kommen soll: Der Undertaker verliert.
An diesem Kampf war etwas anders, das merkte man schon im Verlauf.
Der Undertaker ruft "This is my yard!" "This is still my yard!" - der Undertaker redet nicht in Matches (jedenfalls nicht so, dass die Fernsehzuschauer ihn hören können). Und lange nachdem Reigns den Ring verlassen hat, liegt der Undertaker noch in selbigem. Die Kameras halten weiterhin drauf. Er kleidet sich an, sein langer Mantel, sein Hut, dann will er den Ring verlassen. Doch - er hält inne. Er schaut sich um. Er öffnet seine Kampfhandschuhe und legt diese säuberlich in den Ring. Er legt langsam seinen Mantel ab und faltet ihn zusammen, ebenfalls zu den Handschuhen legend. Dann nimmt er den Hut in seiner üblichen Geste ab und vollendet den Stapel in der Ringmitte. Erst dann verlässt er mit einem Seufzen den Ring, gibt seiner Frau, die am Ringrand sitzt, einen Kuss (!) und verlässt die Kulisse in einem mindestens genauso epischen Auszug, wie er ihn vor weniger als einer halben Stunde noch betreten hat.
Leute, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie fertig mich das macht. Ich weiß gar nicht genau warum?! Ich habe heulend vor dem Fernseher gesessen und hunderte, ach was tausende von Fans im Stadion haben genau das gleiche gemacht. Ist es der Teil der Kindheit, der nun unwiderruflich vorbei ist? Ich habe mit dem Undertaker in zahllosen Matches mitgefiebert, mich über die Namensähnlichkeit gefreut (er heißt Mark Calaway) und jeden seiner Einzüge gefeiert. Klar hat er auch verloren, er hat keineswegs irgendwelche Rekord-Regentschaften aufgestellt (wie The Rock, Triple H, Edge oder John Cena - alles Gegner aus seiner Laufbahn), aber er war unfassbar charismatisch.
Ist es dieses "Unbeeindruckte", was mich so faszinierte? Dieses "Ist mir total egal, dass du mir gerade deinen Finishing Move verpasst hast, ich steh trotzdem wieder auf!"? Ist es der letzte Hauch des Fantastischen in einer Welt, die sich weiterentwickelt hat? Die Wrestler heute sind alle "Normalsterbliche", solche Superhelden wie Hulk Hogan oder Gimmicks wie Adam Bomb, Bastion Booger oder Duke "The Dumpster" Droese gibt es heute ja gar nicht mehr, weil man dank des Internets jedes Gesicht direkt mit einer realen Person verbinden kann. Jeder Wrestler hat Twitter, Instagram oder Facebook, es ist gar keine Nische für "bewusstes Unwissen". Ist es die Erinnerung an eine unbeschwertere Zeit, fernab von Stress am Arbeitsplatz, fern von digitalem Überfluss, nah am analogen Übersichtlichsein? Eine Mischung all dessen?
Wrestling wird seit dem letzten Wochenende nie mehr so sein, wie es mal war.
Und mein Leben auch nicht.
#thankyoutaker